Rechtssichere Behandlungsdokumentation im Lichte des BGH-Urteils vom 27.4.2021: Haftungsfalle Praxissoftware?

Rechtssichere Behandlungsdokumentation im Lichte des BGH-Urteils vom 27.4.2021: Haftungsfalle Praxissoftware?

Welchem Zweck dient die Behandlungsdokumentation?
Die Dokumentation dient der Sicherstellung wesentlicher medizinischer Daten und Fakten für den Behandlungsverlauf und damit der Therapiesicherung. Durch die Aufzeichnung des Behandlungsgeschehens soll eine sachgerechte therapeutische Behandlung und Weiterbehandlung gewährleistet werden (vgl. BT-Drs. 17/10488, 25 re. Sp., 26 li. Sp., 29 re. Sp.; Senat NJW 1988, 762; NJW 1993, 2375 = VersR 1993, 836; NJW 1999, 3408 = VersR 1999, 1282). Darüber hinaus soll die Dokumentation – insbesondere im Zusammenspiel mit dem Anspruch des Patienten auf Einsichtnahme in die Krankenunterlagen (§ 630 g BGB) – gewährleisten, dass der Arzt seiner Rechenschaftspflicht genügt, die sich aufgrund des Kenntnisvorsprungs gegenüber dem Patienten vor allem als Informationspflicht darstellt (vgl. BT-Drs. 17/10488, 26 li. Sp., S. 29 re. Sp.; Senat BGHZ 72, 132 = NJW 1978, 2337; BeckOK BGB/Katzenmeier, 1.2.2021, § 630 f Rn. 4 mwN ; MüKoBGB/Wagner, 8. Aufl., § 630 f Rn. 3).

Der BGH hat mit Urteil vom 27.4.2021 – VI ZR 84/19 auch den Meinungsstreit zu Gunsten der Behandler entschieden, dass so weit in der Gesetzesbegründung als eine letzte Funktion der Dokumentation die „faktische Beweissicherung“ genannt wird (BT-Drs. 17/10488, 26 li. Sp. 1. Absatz), damit lediglich die im unmittelbar sich daran anschließenden Satz näher beschriebenen Auswirkungen eines Dokumentationsversäumnisses – die in § 630 h III BGB geregelte Beweislastumkehr – charakterisiert wird, hierdurch aber nicht der Umfang der Dokumentationspflicht definiert werden soll.

Was muss dokumentiert werden?
Nach § 630f Abs. 2 BGB sind diejenigen für die Behandlung wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufzuzeichnen, die aus der fachlichen Sicht des Behandelnden für die Sicherstellung der derzeitigen oder einer künftigen Behandlung wesentlich sind bzw. sein können (BT-Drs. 17/10488, 26 li. Sp. 4. Absatz; BGH NJW 1988, 762). Hiermit sind solcheMaßnahmen und Ergebnisse gemeint, deren Aufzeichnung geboten ist, um Ärzte und Pflegepersonal über den Verlauf der Krankheit und die bisherige Behandlung für ihre künftigen Entscheidungen ausreichend zu informieren (vgl. BGH NJW 1993, 2375 = VersR 1993, 836 [837]; auch BT-Drs. 17/10488, 26 li. Sp. 1. Absatz: „Dokumentation einer medizinisch wesentlichen Information oder Maßnahme“). Mit dem Hinweis auf die „fachliche Sicht“ bringt das Gesetz zum Ausdruck, dass im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung bei Verneinung eines medizinischen Erfordernisses eine Dokumentation auch aus Rechtsgründen nicht geboten ist.

Wann muss dokumentiert werden?
Gemäß § 630f Abs. 1 Satz 1 BGB hat die Dokumentation in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit der Behandlung zu erfolgen. Die Aufzeichnung sollte also während oder unmittelbar nach der Behandlung vorgenommen werden. Soweit dies aufgrund besonderer Umstände nicht möglich ist, ist die Dokumentation zeitnah nachzuholen. Dabei muss die Dokumentation in jedem Fall so rechtzeitig erfolgen, dass eine ggf. erforderliche Weiterbehandlung gesichert ist.

Gemäß § 630f Abs. 1 S. 2 BGB sind Berichtigungen und Änderungen von Eintragungen in der Patientenakte nur zulässig, wenn neben dem ursprünglichen Inhalt erkennbar bleibt, wann sie vorgenommen worden sind.

Welche Anforderungen stellt das Gesetz an die elektronische Dokumentation und damit an die Praxissoftware?
Der BGH hat mit Urteil vom 27.4.2021, Az.VI ZR 84/19 klargestellt, dass eine elektronische Dokumentation, die nachträgliche Änderungen entgegen § 630 f Abs. 1 S. 2 und 3 BGB nicht erkennbar macht, keine positive Indizwirkung dahingehend zukommt, dass die dokumentierte Maßnahme von dem Behandelnden tatsächlich getroffen worden ist. Anders als bei der herkömmlichen hand- oder maschinenschriftlichen Dokumentation, bei der nachträgliche Änderungen durch Streichung, Radierung, Einfügung oder Neufassung regelmäßig auffallen, bietet die mithilfe einer – nachträgliche Änderungen nicht erkennbar machenden – Software geführte elektronische Dokumentation jedem Zugriffsberechtigten die Möglichkeit, den bisher aufgezeichneten Inhalt in kurzer Zeit, mit geringem Aufwand und fast ohne Entdeckungsrisiko nachträglich zu ändern. Einer solchen Dokumentation fehlt es dann an der für die Annahme einer Indizwirkung erforderlichen Überzeugungskraft und Zuverlässigkeit. Sie rechtfertigt nicht den ausreichend sicheren Schluss, die dokumentierte Maßnahme sei tatsächlich erfolgt.

Welche Rechtsfolgen hat die Verwendung einer nachträgliche Änderung nicht erkennbar machenden Software für den Behandler?
Der BGH hat in seiner genannten Entscheidung mit Urteil vom 27.4.2021, Az.VI ZR 84/19 auch festgehalten, dass anders als in der Literatur zum Teil vertreten wird, die Verwendung einer nachträgliche Änderung nicht erkennbar machenden Software nicht zur Beweislastumkehr im Sinne des § 630 h Abs. 3 BGB führt. Die Vermutung des § 630 h Abs. 3 BGB zum Nachteil des Behandlers erstreckt sich vielmehr nur auf die unterbliebene, lückenhafte, nicht zeitnahe, nicht auffindbare oder entgegen § 630f Abs. 3 BGB nicht aufbewahrte Dokumentation. Den Fall, dass die medizinische Maßnahme zwar elektronisch dokumentiert, die Dokumentation aber mit einer nachträgliche Änderungen nicht erkennbar machenden Software erstellt wurde, regelt die Bestimmung dagegen nicht.

Dies bedeutet nach der Entscheidung des BGH jedoch nicht, dass eine elektronische Dokumentation, die nachträgliche Änderungen nicht erkennbar macht, bei der Beweiswürdigung vollständig unberücksichtigt zu bleiben hat. Sie bildet vielmehr einen tatsächlichen Umstand, den der Tatrichter bei seiner Überzeugungsbildung unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses der Beweisaufnahme einer umfassenden und sorgfältigen, angesichts der fehlenden Veränderungssicherheit aber auch kritischen Würdigung zu unterziehen hat (§ 286 ZPO).

Fazit/Empfehlung
So erfreulich die Klarstellung des BGH, dass es zu keiner Beweislastumkehr bei nicht den Anforderungen des § 630f Abs. 1 S. 2, 3 BGB entsprechenden Dokumentation kommt, ist – so bleibt gleichwohl – um spätere Beweisnachteile in einem Rechtsstreit, insbesondere einem Arzthaftungsprozess, zu vermeiden – unbedingt zu empfehlen, nachträgliche Berichtigungen in einer schriftlich geführten Dokumentation mit Änderungsdatum zu kennzeichnen und bei elektronischer Dokumentation eine aktuelle Praxissoftware zu verwenden, die Änderungen automatisch erkennbar macht. Achten Sie ggf. darauf, die protokolierte Änderungshistorie aktivieren zu lassen, da dies in der Praxis nach wie vor teilweise unterbleibt. Die Dokumentation mit veralteter Software oder gar einer klassischen Textverarbeitung (wie Microsoft Word), bei der nachträgliche Änderungen nicht sicher ausgeschlossen werden können, sollte unbedingt vermieden werden – nicht zuletzt auch, weil sich die Berufshaftpflichtversicherer dieses Themas annehmen und die Frage stellen könnten, weshalb ein entgegen rechtlicher Vorgaben und zeitgemäßer ITStandards „nachlässig“ elektronisch dokumentierender Arzt uneingeschränkten Versicherungsschutz genießen sollte (vgl. Walter, NJW 2021, 2364, 2368).

Oliver Graf
Rechtsanwälte Semsi | Graf | Buchmüller-Reiss
Partnerschaftsgesellschaft mbB


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